Casus: SEVESO - Brände und Störfall-Verordnung

Die negativen Auswirkungen auf Mensch und Umwelt durch spektakuläre Unfällen in chemischen Produktions- und Lageranlagen in den 1970-iger Jahren waren Anlass und Ausgangspunkt für rechtliche Regelungen zur Störfallprävention und Folgenbegrenzung. Diese rechtlichen Setzungen waren insbesondere mit den Störfall 1976 im italienischen Seveso1 verknüpft, weil dieses Ereignis sich durch eine Besonderheit auszeichnete, die für die chemische Industrie von zentraler Bedeutung war: Die Gefahrstoffe, die zu den weitreichenden Auswirkungen auf die Umwelt und die Menschen in der Nachbarschaft führten, waren erst im Verlauf des Unfalls aus weniger gefährlichen Stoffen entstanden.

Dieses Faktum setzte die rechtliche Behandlung unter erhebliche Schwierigkeiten. Bis dato konnten alle technischen Vorschriften auf genau bezeichnete Gefahrenmerkmale von Stoffen oder Verfahren bezogen werden, nunmehr mussten aber auch Zustände ex ante berücksichtigt und zu deren Beherrschung technische Maßnahmen vorzusehen waren. Weiterhin zeigte die Untersuchung des SEVESO-Ereignisses, dass die Ursachen in der komplexen Verschaltung des Verfahrensablaufs und den in diesen fehlerhaft eingeschlichenen Faktoren lag. Zur Prävention des Ereignisses hätte eine systematische Sicherheitsanalyse durchgeführt werden müssen, ein Vorgehen, welches zu dieser Zeit in der chemischen Verfahrenstechnik eher eine Ausnahme darstellte.

Die EU-Kommission hat diese beiden Lehren aus Seveso und anderen Ereignissen, wie Feyzin 19662, Flixbourough 19743 in die erste Fassung der Richtlinie (SEVESO I Richtlinie) von 1982 aufgenommen. Es wurde für gefährliche Industrieanlagen die Anfertigung einer systematischen Sicherheitsanalyse vorgeschrieben und zur Bestimmung des Geltungsbereichs der Richtlinie, neben dem tatsächlichen Vorhandensein aufgelisteter Gefahrstoffe auch die Fälle eingeschlossen, in denen diese Stoffe erst "anfallen" , also auch aus nicht so gefährlichen Stoffen im Laufe eines Ereignisses entstehen können. Letztere Vorschrift lief in der Praxis weitgehend ins Leere, denn die Beantwortung der Frage, ob Stoffe bei der Abweichung vom bestimmungsgemäßen Betrieb entstehen können, setzt eine systematische (Sicherheits-) Analyse voraus. Diese wurde aber in der Rechtsvorschrift erst gefordert für Anlagen, die der Richtlinie unterlagen. Dieser "Geburtsfehler" wurde weder mit der Neufassung der Richtlinie 1996 (SEVESO II) noch durch die Fassung von 2012 (SEVESO III) endgültig behoben.

Aber dennoch gab es einige Versuche dieses Paradoxon zu lösen. In der Störfall-Verordnung aus dem Jahr 2000 wurde das "anfallen" durch "bei einem außer Kontrolle geratenen industriellen chemischen Verfahren anfallen..." ersetzt. Die Präzisierung zielte insbesondere auf den Ausschluss der Stoffentstehung durch Brände, ein Vorgang, der in der Vergangenheit bezeichnenderweise immer wieder zu Zweifelsfragen geführt hat. Mit der Umsetzung der SEVESO III Richtlinie in der Störfall-Verordnung 2017 wurden schließlich explizit die Brandgefahren, wenn auch nur in Lägern innerhalb eines Betriebsbereichs, wieder eingeschlossen. Nun sind Stoffe, bei denen "... vernünftigerweise vorhersehbar ist, dass sie bei außer Kontrolle geratenen Prozessen, auch bei Lagerung in einer Anlage innerhalb des Betriebsbereichs, anfallen, und zwar in Mengen, die die in Anhang I genannten Mengenschwellen erreichen oder überschreiten" zu berücksichtigen. Der Seveso-Fall, bei dem aus 1,2,4,5-Tetrachlorbenzol (Kein Stoff nach Anhang I) durch einen außer Kontrolle geratenen Prozess das hochgiftige TCDD4 (Stoff nach Anhang I) entstand, ist durch diese Vorschrift abgedeckt. Würde jedoch das TCDD in einer Menge von mehr als 1 kg bei einem Brand von z.B. PVC entstehen, würde das nur zur Anwendung der Störfall-Verordnung führen, wenn der Brand in einer Lageranlage in einem schon bestehenden Betriebsbereich stattfindet. Diese Einschränkung erscheint nicht sachgerecht. Brände gelten generell neben Explosionen und Freisetzung von toxischen und ökotoxischen Stoffen als wesentliche Ursachen für Störfälle, unabhängig davon ob sie innerhalb oder außerhalb von Betriebsbereichen nach der Störfall-Verordnung stattfinden.

Brände und Störfall-Verordnung

Bei der Betrachtung von Bränden in Verbindung mit der neuen Störfall-Verordnung sind zwei Aspekt zu unterscheiden. Einerseits kann die sachgerechte Prognose eines Brands ex ante zur Errichtung oder einem "upgrading" eines Betriebsbereich nach der Störfall-Verordnung führen, andererseits gelten Brände als wesentliche Ursachen von Störfällen, die verhindert und deren Auswirkungen begrenzt werden müssen.

Errichtung eines Betriebsbereichs, "upgrading"

Der erste Aspekt ist, wie dargelegt, in der neuen Störfall-Verordnung (2017) präzisiert worden. Die in diesem Zusammenhang eingeführten unbestimmten Rechtsbegriffe werden durch eine Empfehlung der Kommission für Anlagensicherheit (KAS) für die Praxis umsetzbar gemacht. Im Bericht KAS-435 "Empfehlungen zur Ermittlung der Mengen gefährlicher Stoffe bei außer Kontrolle geratenen Prozessen " wird die "vernünftige Vorhersehbarkeit" der Entstehung von Gefahrstoffen ex ante gleichbehandelt wie der "vernünftige Ausschluss" von Ereignissen, denen i.S. des § 3 Abs 2 Störfall-Verordnung nicht mehr vorgebeugt werden muss. Diese semantische Gleichbehandlung erscheint auf den ersten Blick plausibel, verdeckt aber einen wesentlichen Unterschied der Falllagen. Der "vernünftige Ausschluss" ist nur im System der Störfall-Verordnung definiert und teilt die Bereiche der noch zu berücksichtigender Störfallablaufszenarien ("Dennoch-Störfall") von den Ereignissen, die z.B. in einem Sicherheitsbericht nicht weiter betrachtet werden müssen6. Hierbei sind die störfallverhindernden und störfallbegrenzenden Maßnahmen zu berücksichtigen. Die "vernünftige Vorhersehbarkeit" der Entstehung von Gefahrstoffen ist ein analytischer Schritt im Vorfeld der Prüfung, ob die Störfall-Verordnung überhaupt anzuwenden ist oder bei bestehenden Betriebsbereichen ggf. ein Übergang von den Grund- zu der erweiterten Pflichten ("upgrading") erforderlich ist. Dies erfordert, wie dargelegt, eine systematische Sicherheitsbetrachtung. Um den Aufwand dafür zu begrenzen schlägt die KAS eine pragmatische Vorgehensweise vor. In einer Positivliste werden 12 typische Anlagen (Bezeichnung nach dem Anhang der 4. BImSchV) ausgewählt, in denen ggf. eine erhebliche Mengen an Gefahrstoffen durch Brand oder Stoffverwechslung bei einem Unfall entstehen kann. Der Unfall kann nach Auffassung der KAS aber vermieden, bzw. deren Auswirkungen wirksam begrenzt werden, wenn eine Reihe konkret benannter Sicherheitsmaßnahmen vorhanden sind. Dann ist "vernünftigerweise vorhersehbar", dass es durch einen denkbaren Unfall nicht zur Bildung von Gefahrstoffen nach der Störfall-Verordnung in den erforderlichen Mengen kommen kann.

Sind die von der KAS vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verhinderung von Stoffverwechselungen noch nachvollziehbar, bleiben Zweifel bei der Behandlung von Bränden und sonstige Pfade der Entstehung von Gefahrstoffen bei "außer Kontrolle geratenen Prozessen" . Ein Brandgeschehen kann sehr komplex sein, Art und Menge der entstehenden Brandprodukte sind von eine Fülle konkreter Bedingungen abhängig, deren Zusammenwirken eine systematische Analyse des Einzelfalls erfordern. KAS-43 enthält hierfür wertvolle Basisinformationen, ersetzt aber eine detaillierte Analyse im Einzelfall nicht. Kann durch die systematische Analyse die Entstehung von Stoffen nach Anhang 1 der Störfall-Verordnung in den dort angegebenen Mengen nicht ausgeschlossen werden, kommt es zur Errichtung eines Betriebsbereichs und in Folge dessen zur Anwendung der Verordnung mit allen Pflichten. Ggf. müssen neben den im Unfall erst entstehenden Gefahrstoffen auch noch unterhalb der Mengenschwelle des Anhang 1 vorhandene weitere Gefahrstoffe in Anwendung der Summationsregel berücksichtigt werden.

Brände in bestehenden Betriebsbereichen

Für die Betrachtung von Bränden in bereits bestehenden Betriebsbereichen ist maßgeblich, ob durch den Brand ein Störfall ausgelöst werden kann. Danach richten sich die Anforderungen an technische und organisatorische Maßnahmen zur Verhinderung der Entstehung des Brandes und der Begrenzung seiner Auswirkungen. Diese sind i.d.R. im Sicherheitsbericht detailliert darzulegen.

Fußnoten
1 Egmont R. Koch, Fritz Vahrenholt: Seveso ist überall – Die tödlichen Risiken der Chemie. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1978, ISBN 3-462-01290-8.
2 https://en.wikipedia.org/wiki/Feyzin_disaster
3 https://de.wikipedia.org/wiki/Flixborough-Ungl%C3%BCck
4 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin CAS 1746-01-6
5 Kommission für Anlagensicherheit, KAS-43 Empfehlungen zur Ermittlung der Mengen gefährlicher Stoffe bei außer Kontrolle geratenen Prozessen i.d.F. v. 23.11.2017, http://www.sfk-taa.de/publikationen/kas_pub.htm
6 Näheres im: SFK-Bericht "Schadensbegrenzung bei Dennoch-Störfällen. Empfehlungen für Kriterien zur Abgrenzung von Dennoch-Störfällen und für Vorkehrungen zur Begrenzung ihrer Auswirkungen" (SFK-GS-26) 1999, http://www.sfk-taa.de/publikationen/kas_pub.htm

Autor: Dr. Uth
International erfahrener Experte für chemische Anlagensicherheit. Mitglied verschiedener Kommissionen (darunter KAS, TAA).

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