Nutzung von Flächen innerhalb des Achtungsabstandes unter Berücksichtigung Europäischer Vorgaben & Erfahrungen

Die Umsetzung der Seveso III Richtlinie ist durch den Erlass der neuen StörfallV (2017) und Ergänzungen von BImSchG, UVPG, BBergG auf Bundesebene zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. Die Änderung einige Ländervorschriften stehen noch aus. In der neuen Rechtssetzung werden keine konkreten Vorgaben zur Ermittlung des "angemessenen Abstands" gegeben. Dieser muss, nach wie vor, im konkreten Einzelfall ermittelt werden. Auf dieser Grundlage erfolgt die Entscheidung durch die zuständigen Behörden über eine zulässige Nutzung von Flächen innerhalb der „angemessenen Abstände“. Dabei werden rechtliche und gesellschaftlich akzeptierte Konventionen ("störfallspezifische Faktoren", "Sozio-ökonomische Faktoren") im Abwägungsprozess berücksichtigt. Dies wird in den meisten Staaten der EU so gehandhabt . [1] Im Folgenden sollen die Strategien der am weitesten fortgeschrittenen Staaten kurz dargelegt werden.

1 Vereinigtes Königreich

1.1 Grundlegender Ansatz, Endpunkte

In UK wird seit den 1970iger Jahren durch Maßnahmen des „Land Use Planning“(LUP) die geordnete Zuordnung von Flächen unterschiedlicher Nutzung und Empfindlichkeit entwickelt. Die Planungshoheit obliegt den Gemeinden (County Councils) nach obligater Konsultation der zentralen Health & Safety Executive (HSE). Die Empfehlung der HSE „Planning Advice for Developments near Hazardous Installations (PADHI+)“ [2] beruht auf einer Risikoabschätzung und definiert drei verschiedene Zonen. (s. Bild 1).


Bild 1
Abgrenzung der drei Zonen nach HSE Empfehlung

Die Grenze der äußersten Zone ist der sog. Konsultationsabstand, innerhalb dessen bei planungsrelevanten Vorhaben die Stellungnahme der HSE eingeholt werden muss. Alle Vorhaben, die außerhalb des Konsultationsabstandes liegen brauchen die Gefahren aus Störfällen nicht weiter zu berücksichtigen. Die Festlegung der Zonen erfolgt für jeden Standort eines Seveso Betriebes und für den Streckenverlauf von außerbetrieblichen Rohrleitungen (pipelines) mit Gefahrstoffen durch die HSE aufgrund einer Risikoschätzung nach festgelegten Kriterien. Die Ergebnisse werden in einer internen Datenbank (HSE Consultation Zone Library), zu der die Planungsbehörden Zugang haben, zentral gespeichert. Als Endpunkte für die drei Zonengrenzen kommt ein qualitativer Risikogrenzwert zur Anwendung, s. Tabelle 1. Menschen in der inneren Zone sind dem Risiko von 10 Expositionen einer Gefährlichen Dosis in 106 Jahren ausgesetzt, Menschen in der äußeren Zone nur 0,3 Expositionen.

Tabelle 1 Definition der gefährlichen Dosis und Expositionsgrenzwert der HSE für LUP
Eine gefährliche Dosis ist definiert durch entweder: Risiko-Grenzwert
[Expositionen in 10^6 Jahren]
Zone
-Ernsten Stress für Alle;
-Medizinische ambulante Versorgung einer großen Anzahl;
-Stationäre medizinische Versorgung für Einige, oder
-Einige (ca. 1%) Todesfälle
10
1
0,3
Innere
Mittlere
Äußere

In einfachen Fällen, z.B. bei der Beurteilung von Wohnbebauung wird das Individualrisiko bei der Zonenzuordnung verwendet, in komplexen Fällen, z.B. Bereichen mit großem Publikumsverkehr, Verkehrsknotenpunkten erfolgt die Beurteilung anhand eines Gruppenrisikos und der Einschätzung des Verletzlichkeitsgrades.

1.2 Nutzung von Flächen im Gefährdungsbereich/Umgang mit verletzlichen Objekten

Die Verletzlichkeitsanalyse der „targets“ (Bevölkerung, Gebäude, Infrastrukturen, etc) erfolgt unter Anwendung von speziellen Indikatoren und führt zu einer Klassifizierung von „Entwicklungstypen“, wie:

  • Arbeitsplätze,
  • Parkplätze
  • Wohnbebauung,
  • Hotel, Herberge, Ferienhäuser/-Wohnungen,
  • Transportschwerpunkte,
  • Publikumsverkehr innerhalb von Gebäuden,
  • Publikumsverkehr in Freien,
  • Fortbildungsstätten, Schulen,
  • Gefängnisse.

Diesen „Entwicklungstypen“ werden konkrete Informationen, wie z.B. Fläche, Anzahl der Betten, Anzahl der Stockwerke zugeordnet und in die Datenbank eingegeben. Im Ergebnis wird die Verletzlichkeit in 4 Stufen [3] festgelegt :

  • Stufe 1: Bezogen auf Beschäftigte innerhalb der Betriebe
  • Stufe 2: Bezogen auf die allgemeine Öffentlichkeit innerhalb von Gebäuden
  • Stufe 3: Bezogen auf verletzlichen Mitglieder der Öffentlichkeit (Kinder, Bewegungsbehinderte, Wahrnehmungseingeschränkte)
  • Stufe 4: Größere Anzahl der Fälle der Stufen 3 und Stufe 2 im Freien

Die Entscheidung der HSE über die Zulässigkeit von Planungsvorhaben in den einzelnen Zonen richtet sich nach in Bild 2 dargestellter Matrix.

Die Entscheidung der HSE ist eine Empfehlung an die Planungsbehörden, die die letztendliche Entscheidung treffen.

Die HSE Empfehlung enthält weiterhin Regeln zum Umgang mit Gemengelagen, Zurechnung der Verletzlichkeit unterschiedlicher Objekte an den Grenzen zwischen zwei Zonen und für Einzelfälle, z.B. Steinbrüche/Minen, große Mineralöllager. Die HSE Richtlinie enthält darüber hinaus etliche Festlegungen für Sonderfälle.


Bild 2
Entscheidungsmatrix der HSE über Zulässigkeit von Planungen in der Umgebung von Seveso Betrieben und Pipelines, DAA (Do not Advise Against)= zulässig; AA (Advise Against) = unzulässig

Im HSE Handbuch [4] sind eine Reihe von typischen Beispielen ausgeführt, anhand derer sowohl die Methode zur Ermittlung der angemessenen Abstände als auch der Umgang mit den so gefundenen Flächen dargestellt ist.

Im Beispiel der Lagerung von „Sehr giftigen Stoffen“ mit einer max. Menge von 500 Tonnen kann gezeigt werden, dass die Lage der Zonenränder sehr stark von den Transporttätigkeiten innerhalb des Lagers bestimmt werden. (Details s. Tabelle 2)

Durch die Kontrolle/Einschränkung dieser Tätigkeiten kann z.B. die Grenze der IZ drastisch verringert werden, was zu größeren Entwicklungsmöglichkeiten der Ansiedlung von zulässigen Nutzungen führt.

Im Beispiel zur Lagerung von Chlor in 2 x 25 Tonnen fassenden Behältern werden die Hauptbeiträge zum Risiko auch durch die Transportvorgänge geliefert. Da es sich in diesem Beispiel um eine neu geplante Anlage in der Nachbarschaft eines Dorfes (ca. 1000 m Abstand) handelt, können Auflagen zur Gestaltung der Anlage gemacht werden. Die HSE würde in einem solchen Fall empfehlen: „…An option would be to locate the installation within a secondary containment building fitted with a gas scrubber, and install gas detectors capable of initiating closure of isolating valves”.

Tabelle 2 Beispielhafte Abstände ermittelt aus HSE Handbuch (Beispiele).
Zonen in [m] Lagerung sehr giftiger Stoffe & Zubereitungen Lagerung Chlor 2x 25 t in festen Behältern, Umschlag TKW (1000 p.a.)
Ortsfeste Lagerung T+; 500 Tonnen Transport in Behältern T+; max. 5 Tonnen
Inner Zone (IZ) 50 600480
Mittlere Zone (MZ) 850 810850
Äußere Zone (OZ), Konsultationsabstand 1100 920 1300

2 Niederlande

2.1 Grundlegender Ansatz, Endpunkte

Die NL sind das am dichtesten bevölkerte europäische Land. Sie betreiben eine Raumordnungspolitik unter Berücksichtigung von Störfallgefahren seit Anfang der 80iger Jahre. Anlässlich der starken Verbreitung von LPG als Treibstoff wurde ein probabilistisches Konzept zur Bewertung dieser Risiken entwickelt. Dabei konnte auf eine „Risikokultur“ zurückgegriffen werden, die die, zu großen Teilen unterhalb des Meeresniveaus liegende Niederlande, hinsichtlich ihrer Schutzbedürfnisse vor Überflutung schon in den 70iger Jahren entwickelt und teilweise gesetzlich festgeschrieben haben. Für Seveso Betriebe wird eine quantitative Risikoanalyse gefordert, deren Ergebnisse auch für die Überwachung der Ansiedlung genutzt werden.

Zuständig für die Planung sind die lokalen Planungsbehörden, die auf der Grundlage von Empfehlungen des zuständigen Ministeriums für Behausung, Raumordnung und Umwelt (VROM) lokale Flächennutzungspläne erarbeiten. Die Empfehlungen des VROM werden in eine „National Policy on Spatial Planning (NPSP)“ entwickelt, die alle 5 Jahre fortgeschrieben wird. Die Vorgaben der Seveso II Richtlinie wurden im External Safety Decree (2004) umgesetzt.

In der Regelung erfolgt eine Festsetzung des Individualrisikos (Umgebungsunabhängig) und Gruppenrisiko (Umgebungsabhängig hinsichtlich der Bevölkerungsdichte) für das LUP. Für das Individuelle Todesrisiko wird ein gesetzlich festgeschriebener Wert von 10-6 p.a. angegeben, für das Gruppenrisiko werden Zielwerte, die nicht legal verbindlich sind formuliert. Zur Anwendung der Gruppenrisiken hat das VROM 2004 einen umfangreichen Leitfaden [5] entwickelt, in dem Methoden zur operativen Beschreibung und Berücksichtigung von Gruppenrisiken entwickelt sind. Zur Weiteren Verbesserung wurde von der TNO eine Studie [6] zum Gruppenrisiko durchgeführt, die die Grundlage für die Fortschreibung der VROM Empfehlung dient.

Im Zentrum stehen dabei die geografische Lokalisation von Risikoschwerpunkten und die Visualisierung von Gruppenrisiken aufgrund mehrerer Risikoquellen, z.B. Chemieanlage, Transport, LPG -Tankstelle in einer geografischen Karte. Beide Methoden sind unmittelbar von den Planungsbehörden anwendbar. Um die Unsicherheiten bei probabilistischen Verfahren zu minimieren erfolgt die Berechnung der Risiken durch das einheitliche Computerprogramm SAFETI-NL mit festgelegten Modellen für die Ausbreitung und der Quelltermmodellierung, welches von allen Behörden verwendet wird. Die Berechnungen erfolgen auf der Grundlage der sog. „coloured books“ (Sammlung von Quellterm- und Ausbreitungsmodellen, etc.).

Quantitative Risikoanalyse (QRA) müssen für alle Seveso-Betriebe und kleinere Anlagen wie LPG-Tankstellen, Ammoniakkälteanlagen, Verkaufslager mit giftigen Stoffen und Düngemittellager für Ammoniumnitrat durchgeführt werden. Während QRAs für Seveso-Betriebe stets einzelfallbezogen aufgestellt werden, kommen bei den kleineren Anlagen standardisierte Ansätze mit festen Abständen zur Anwendung.

2.2 Nutzung von Flächen im Gefährdungsbereich/Umgang mit verletzlichen Objekten

In der VROM Empfehlung erfolgt eine Differenzierung zwischen:

  • Verletzlichen Objekten, z.B. Krankenhäuser, Schulen, Wohnhäuser und
  • weniger verletzlichen Objekten, z.B. Bürogebäude(<50 Personen), Hotels, Restaurants, Geschäfte.

Für „verletzliche Objekte“ wird das Individualrisiko von 10^-6 Tote p.a. zu Grunde gelegt. Für „weniger verletzliche Objekte“ gilt der Individualrisikowert als Zielwert, d.h. es wird angestrebt diesen Wert in der Regel einzuhalten. Ausnahmen sind zulässig. Für das Gruppenrisiko sind keine Grenzwerte festgelegt sondern Orientierungswerte: 10^5 bei >10 Toten; 10^7 bei >100 und 10^8 bei >1000 Toten

3 Italien

3.1 Grundlegender Ansatz, Endpunkte

In Italien wird LUP unter Berücksichtigung industrieller Risiken durch die lokalen Behörden auf der Grundlage verbindlicher zentraler & regionaler Vorgaben durchgeführt. Für die Region wird eine vorläufige Gefahrenuntersuchung durch die zuständige regionale Einheit der Umweltschutzbehörde (ARPA) und dem regionalen Technischen Komitee (CTR) durchgeführt, deren Ergebnisse bilden die Grundlagen für die lokalen Genehmigungen & LUP Entscheidungen. Dabei sind auch die Rahmenbedingungen des zentralen Decree 9 Maggio 2001 [7] , (“Minimal Safety requirements for the urban and territorial planning in the areas subject to major accident risks”), das die Anforderungen des Art. 12 der Seveso II Richtlinie umsetzt zu beachten. [8]

Für die Lagerung von LPG, brennbaren, sowie toxischen Stoffen bestehen landesweit gesonderte Vorschriften, in denen ein regeltypischer deterministischer Ansatz zum Tragen kommt. Ergänzt wird dieser durch die generische Klassifizierung von vier Wahrscheinlichkeitsbereichen, s. Tabelle 5.

Für alle prozessbezogenen Fälle erfolgt eine Einzelfallbewertung. In einem halbquantitativem Verfahren erfolgt die Abschätzung der Konsequenzen und der Wahrscheinlichkeit eines Szenarios. Für die szenarische Betrachtung werden die in Tabelle 4 aufgeführten Endpunkte verwendet. Für jeden Seveso II Betrieb werden die einschlägig passenden Szenarien ausgewählt und die Abstände zu den Endpunkten ermittelt. In einem gesonderten Schritt erfolgt die Abschätzung der Wahrscheinlichkeit in eine der 4 Klassen (s. Tabelle 4).


Tabelle 4
Verwendete Endpunkte in Störfallablaufszenarien nach Decree 9 Maggio 2001

30 A statistically derived estimate of a concentration of a substance that can be expected to cause death during exposure or within a fixed time after exposure in 50% of animals exposed for a specified time. 31 Immediately Dangerous for Life and Health (IDLH) – values were developed by the US National Institute for Occupational Safety and Health (NIOSH). The values are human acute toxicity data that determine a concentration which does not cause death, serious or irreversible health effects or does not impair the ability to escape up to an exposure time of 30 minutes.

3.2 Nutzung von Flächen im Gefährdungsbereich/Umgang mit verletzlichen Objekten

Die Entscheidung über die Zulässigkeit von Nutzungen in der Nachbarschaft von Seveso II Betrieben ist von der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses, dessen Konsequenz (Schwere) und der Verletzlichkeit der beabsichtigten Nutzung abhängig. Tabelle 5 zeigt die Zusammenhänge. Die Verletzlichkeit von Schutzobjekten wird in sechs Klassen von A – F gefasst, wobei A die verletzlichste Kategorie darstellt und F die robusteste.


Tabelle 5
Kompatibilitätstabelle zulässiger Nutzungen nach Decree 9 Maggio 2001

Die Verletzlichkeitsklasse wird streng an quantitativen Kriterien festgemacht, z.B. Anzahl der Betten in KH, Anzahl der Schüler in der Schule, etc. Klasse A:

  • Bereiche zum ständigem Aufenthalt von Personen mit Geschosszahl größer als 4,5 m3/m2
  • Bewegungsbehinderten in Krankenhäusern, Krankenheime, Hospize, Asyle, Grundschulen, etc. mit mehr als 25 Betten oder 100 Personen anwesend
  • Stätten zum Aufenthalt im Freien, z.B. Einkaufsläden, Märkte mit mehr als 500 Personen anwesend
Klasse B:
  • Bereiche zum überwiegendem Aufenthalt von Personen mit Geschosszahl von 4,5 -1,5 m3/m2
  • Bewegungsbehinderten in Krankenhäusern, Krankenheime, Hospize, Asyle, Grundschulen, etc. mit bis zu 25 Betten oder 100 Personen anwesend
  • Stätten zum Aufenthalt im Freien, z.B. Einkaufsläden, Märkte mit bis zu 500 Personen anwesend
  • Stätten zum Aufenthalt im geschlossenen Räumen, z.B. Einkaufszentren, Weiterführende Schulen, Universitäten, etc. mit mehr als 500 Personen anwesend
  • Stätten mit vorübergehendem Aufenthalt von Personen, z.B. Versammlungsstätten, Sportstätten, Kirchen von mehr als 100 Personen (im Freien) oder 1000 Personen in geschlossenen Räumen.
  • Bahn-/Busbahnhöfe, etc. mit mehr als 1000 Personen pro Tag
Klasse C:
  • Bereiche zum überwiegendem Aufenthalt von Personen mit Geschosszahl von 1,5 -1,0 m3/m2
  • Stätten zum Aufenthalt im geschlossenen Räumen, z.B. Einkaufszentren, Weiterführende Schulen, Universitäten, etc. mit bis zu 500 Personen anwesend
  • Stätten mit vorübergehendem Aufenthalt von Personen, z.B. Versammlungsstätten, Sportstätten, Kirchen mit bis zu 100 Personen (im Freien) oder 1000 Personen in geschlossenen Räumen.
  • Bahn-/Busbahnhöfe, etc. mit bis zu 1000 Personen pro Tag
Klasse D:
  • Bereiche zum überwiegendem Aufenthalt von Personen mit Geschosszahl von 1,0 - 0,5 m3/m2
  • Stätten mit weniger häufigem (monatlich) Publikumsverkehr, z.B. Ferienlager, Messen, Friedhöfe
Klasse E:
  • Bereiche zum überwiegendem Aufenthalt von Personen mit Geschosszahl von kleiner als 0,5 m3/m2
  • Industrieansiedlungen, Gewerbe, Landwirtschaft, Viehzucht
Klasse F:
  • An Industrieansiedelung angrenzende Bereiche
  • Industriebereiche, die wenig mit Beschäftigten besetzt sind.

Maßstab für die Verletzlichkeitsklassifizierung ist der Aufenthalt von Personen, das Verweilen im Freien oder geschlossenen Gebäuden und die Möglichkeit der Evakuierung.

Wenn die in Tabelle 5 erlaubten Klassifizierungen nicht eingehalten werden können, müssen zusätzliche Maßnahmen an der Risikoquelle vorgenommen werden, in Einzelfällen kam es auch zur Verlagerung der Risikoquelle (z.B. Lagerung von Gefahrstoffen).

Es ist bemerkenswert, dass sehr verletzliche Objekte (Klasse A, B) ungeachtet der Auftrittswahrscheinlichkeit des Szenarios in keinem Fall einer tödlichen Gefährdung ausgesetzt werden dürfen.

Umweltschäden werden hinsichtlich ihres Potentials zur Wiederherstellung beurteilt. Sind mehr als zwei Jahre zur Wiederherstellung erforderlich wird dies als nicht akzeptabel angesehen.

4 Zusammenfasssender Vergleich

Derzeit existieren auf Europäischer Ebene noch keine einheitlichen Vorgaben zur Identifikation von Art und Umfang der Verletzlichkeit im Zusammenhang mit der Raumplanung in der Nachbarschaft von Seveso Betrieben. Im Rahmen des EU- ARAMIS Projekts [9] sind Methoden zur Analyse der Verletzlichkeit von öffentlichen Strukturen entwickelt worden, haben aber in der praktischen Anwendung noch keine Bedeutung erlangt.

Indes haben aber mehrere Europäische Staaten konkrete Vorstellungen über die Bewertung von Verletzlichkeiten entwickelt und teilweise in Rechtsvorschriften umgesetzt. [10] Generell sind dies Verfahrensweisen insbesondere zur Ermittlung und Klassifizierung von Verletzlichkeiten (Vulnerability) bei unterschiedlicher Nutzung.

Allen gemeinsam sind die Grundsätze, dass

  • eine ungeschützte Bevölkerung im Freien als stärker verletzlich angesehen wird als wenn sie sich innerhalb geschlossener Räume aufhält;
  • im Vergleich zur „Normalbevölkerung“ besonders verletzliche Personengruppen, wie Kranke, Bewegungsbehinderte, Kinder besonders berücksichtigt werden;
  • die Verletzlichkeit mit der absoluten Anzahl der betroffenen Personen im Gefährdungsgebiet steigt;
  • die durchschnittliche Anwesenheitszeit von Personen berücksichtigt wird.

In den meisten Staaten wird der Grad der Verletzlichkeit in einer halbquantitativen Klassifizierung erfasst, lediglich die Niederlanden wenden ein (formalisiertes generisches) Rechenverfahren zur Bestimmung der zulässigen Nutzung an. Letzteres bezieht sich auf das Todesfallrisiko von Einzelpersonen und/oder Personengruppen. Dabei können grundsätzlich die speziellen Empfindlichkeiten der Personen sowie ihrer Expositionsbedingengen mit berücksichtigt werden.

Am weitesten differenziert erscheint der Ansatz der britischen HSE, die zwischen 4 Verletzlichkeitsstufen unterscheidet. Dieser Klassen werden verschiedene typische Aktivitäten („Entwicklungstypen“) zugeordnet. Darin sind auch quantitative Größen etwa der Flächen, Anzahl der sich dort ständig oder vorübergehend aufhaltenden Personen, Exposition im Freien oder geschlossenen Räumen, etc. aufgeführt. Ähnlich strukturiert ist der italienische Ansatz, in dem eine systematische Zuweisung der Verletzlichkeit (6 Klassen) mit konkreten Zahlen zu Flächen und Personen verknüpft ist.

Die Zulässigkeit von Nutzungen innerhalb der Konsultationsabstände ist von der Einstufung der Verletzlichkeit einerseits und der Zonenausweisung (ermittelt durch die Abschätzung möglicher Auswirkungen) abhängig. Die Zonenzuweisung kann anhand deterministisch abgeleiteter Szenarien oder durch Szenarien, die durch probabilistische Elemente erweitert wurden erfolgen.

Die den verschiedenen Ansätzen und Vorgehensweisen zu Grunde liegenden Konzepte können als Anhaltspunkte für Entscheidungen der zuständigen Behörden im Rahmen des Abwägungsverfahrens nach dem Bau- und Bauplanungsrechts genutzt werden. Da alle Festlegungen Charakter von Konventionen haben empfiehlt sich die Durchführung eines Konsensesualprozessses mit allen Beteiligten. Die weitreichenden neuen Vorschriften zur Öffentlichkeitsbeteiligung bieten dafür einen geeigneten Rahmen.


Quellenangaben
  1. Zusammenfassende Darstellung siehe Basta, C, Struckl, M, IMPLEMENTING ART.12 OF THE SEVESO II DIRECTIVE: OVERVIEW OF PROCEDURES IN SELECTED MEMBER STATES & “ROADMAP” PROPOSALS (Draft 2007), JRC, Ispra,Italy
  2. HSE’S CURRENT APPROACH TO LAND USE PLANNING (LUP), http://www.hse.gov.uk/landuseplanning/lupcurrent.pdf
  3. UK HSE, Planning Advice for Developments near Hazardous Installations (PADHI+) Information Pack, (2008), HSE LUP App (2015)
  4. UK HSE'S LAND-USE PLANNING METHODOLOGY TECHNICAL REFERENCE DOCUMENT (2005)
  5. Netherlands Ministry for Home Affairs, Ministry for Housing, Spatial Planning and the Environment Guidance on the Duty of Accountability for Societal Risk (2004)
  6. TNO Report 2006-A-R0021/B Area Specific Societal Risk – societal risk on the map,(2006)
  7. http://www.mit.gov.it/mit/media/seveso2/pages/documents/nazionali/DM090501.pdf
  8. https://www.icheme.org/communities/subject_groups/safety%20and%20loss%20prevention/resources/hazards%20archive/~/media/Documents/Subject%20Groups/Safety_Loss_Prevention/Hazards%20Archive/XVIII/XVIII-Paper-12.pdf
  9. Kirchsteiger (2002), Towards Harmonising Risk-Informed Decision Making: the ARAMIS and Compass Projects. Journal of Loss Prevention in the Process Industries p. 199-203 vol. 15
  10. Übersicht s.a. UN-ECE-Report "Draft technical guidance on land-use planning, the siting of hazardous activities and related safety aspects" (ECE/CP.TEIA/2016/9), https://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/documents/2016/TEIA/COP/ece.cp.teia.2016.9.e.pdf

Autor: Dr. Uth
International erfahrener Experte für chemische Anlagensicherheit. Mitglied verschiedener Kommissionen (darunter KAS, TAA).

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