Muss erst wieder etwas passieren? - Anlagensicherheit als zyklischer Prozess

Ich gebe es zu: auch ich habe schon die These aufgestellt, dass manchmal etwas passieren muss, um Anlagensicherheit bei den Entscheidern in Industrie, Behörden und Politik wieder sichtbar zu machen. Ich habe selbst Störfälle erlebt und weiß daher, wie zynisch ein solcher Gedanke ist.

Nach fast 40 Jahren Tätigkeit in der Anlagensicherheit kann und will ich aber auch die Augen nicht davor verschließen, dass es Störfälle waren, die dieses Fachgebiet vorangetrieben haben. Ohne die durchgehende Reaktion in Seveso hätte es keine Seveso-Richtlinie gegeben, ohne den Lagerbrand bei Sandoz in Basel keine so umfassenden Schutzmaßnahmen für Gefahrstoffläger, ohne die Explosion in Texas City keine so intensive Befassung mit Sicherheitskultur. Man könnte diese Aufzählung fortsetzen. Man kann aber auch einwenden, dass die meisten Erkenntnisse und Schlussfolgerungen aus Störfällen schon lange vorher bekannt waren. Das stimmt und ist eine frustrierende Aussage an sich.

Die relativ raschen Reaktionen auf spektakuläre Störfälle wären gar nicht möglich gewesen, wenn Fachleute aus Industrie, Behörden und Wissenschaft sich nicht schon ausführlich mit diesen Problemen befasst hätten. Die Fakten lagen in den meisten Fällen auf dem Tisch. Aber es fehlte in der Forschung an Ressourcen, nach Problemlösungen zu suchen oder sie praxistauglich zu machen. In der Industrie kam allzu oft die Killerfrage „wo steht das?“, wenn zusätzliche Maßnahmen vorgeschlagen wurden. In den Behörden schließlich fehlten auch die Ressourcen und manchmal auch der politische Wille, eine neue Regulierung auf den Weg zu bringen.

Irgendwann kommt es dann wegen einer „nicht vorhersehbaren Verkettung unglücklicher Umstände“ zum Störfall. Wirkung entfaltet ein Störfall aber erst, wenn er auch noch zum Medienereignis wird. Da zählt nicht nur die Zahl der Toten oder Verletzten, sondern stärker noch die von der Öffentlichkeit empfundene Bedrohung insbesondere durch Gefahrstoffe. Auch die Öffentlichkeitsarbeit des Unternehmens vor und während des Störfalls spielt eine entscheidende Rolle. Entsteht der Eindruck, man wolle etwas vertuschen, ist der Skandal vorprogrammiert.

In diesem Sinne „spektakuläre“ Störfälle können über das Leid der direkt Betroffenen hinaus für das betroffene Unternehmen existenzbedrohend werden. Für die Anlagensicherheit haben sie aber immer einen positiven Schub gebracht. Sie wird zum Top-Thema im Unternehmen. In der ganzen Branche zeigen sich positive Effekte – allerdings mit Zeitverzögerung, da zunächst der Reflex „bei uns kann so etwas nicht passieren“ überwunden werden muss. Am nachhaltigsten erweist es sich, wenn ein Störfall es in die politische Agenda schafft. Da fällt es auch auf Regierungsebene plötzlich auf, dass man ohne ausreichendes und qualifiziertes Personal selbst bei einem solchen Spezialthema von den Medien abgestraft werden kann. Ohne entsprechende Ressourcen kann man den von der Öffentlichkeit erwarteten Druck auf das Unternehmen nicht ausüben. Auch die Wissenschaft profitiert. Zwar sind neue Erkenntnisse aus Störfällen selten, aber sowohl der Staat als auch die Wirtschaft werden deutlich offener gegenüber Forschungsanträgen.

Dem System der Anlagensicherheit wohnt somit eine gewisse Selbstregulierung inne. Manifestieren sich Schwachstellen (Störfälle), führen interner und externer Druck zu Verbesserungsmaßnahmen. Werden längere Zeit keine Störfälle wahrgenommen, so sinkt der Druck und der Zyklus beginnt von vorne. Zurzeit befinden wir uns in einer Phase, in der längere Zeit kein Störfall als „spektakulär“ im obigen Sinne wahrgenommen wurde. Folgerichtig werden Ressourcen für Anlagensicherheit reduziert oder zumindest zur Disposition gestellt. Es sind nicht nur (aber auch!) Personalreduktionen. So beobachte ich, dass die Leitungen entsprechender Abteilungen in der Hierarchie deutlich heruntergestuft werden, dass Leitungsfunktionen nicht nach fachlicher Kompetenz vergeben, sondern als Abstellgleis missbraucht werden. Organisationen zeigen auf diese Weise, welche Bedeutung Anlagensicherheit für sie hat. Das sind Warnzeichen, die wir ernst nehmen sollten!

Glücklicherweise gibt es noch genügend engagierte und qualifizierte Kollegen (und zunehmend auch Kolleginnen) in der Anlagensicherheit. Sie haben erreicht, dass Störfälle selten sind. Sie stemmen sich gegen Tendenzen, gerade diesen Erfolg als Anlass zum Reduzieren der Sicherheitsbemühungen zu nutzen. Viele von ihnen müssen Manager überzeugen, die die Realität eines Produktionsbetriebs oft allenfalls als Trainee erlebt haben. Vielleicht kann man diesen die Anlagensicherheit positiv „verkaufen“.

Das European Process Safety Centre (www.epsc.be) hat hierzu ein Programm „Process Safety Pays“ entwickelt, in dem Anlagensicherheit in einem hochwertigen Video mit Flugsicherheit verglichen wird. Vielleicht hilft aber auch das von mir gezeichnete Bild des zyklischen Verlaufs der Anlagensicherheit. Es wäre tragisch, wenn erst wieder etwas passieren müsste, damit die Anlagensicherheit die ihr gebührende Priorität erhält.

Dieser Text wurde in leicht veränderter Form in der Zeitschrift „Technische Sicherheit“ im September 2018 als Editorial veröffentlicht.

Autor: Prof. Dr. Jochum
Führender Experte mit mehr als 24 Jahre Erfahrung als Vorsitzender und Stv. Vorsitzender der Kommission für Anlagensicherheit. Ehemals Leiter der Sicherheitsüberwachung, Hoechst AG.

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