Schärfere Genehmigungsanforderungen für Industrieparks nach Seveso-Rechtsprechung des EuGH

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Die Seveso-II-Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten der EU dafür zu sorgen, dass in ihren Politiken der Flächenausweisung oder Flächennutzung das Ziel, schwere Unfälle zu verhüten und ihre Folgen zu begrenzen, Beachtung findet. Damit ist die Störfallvorsorge nicht nur ein Thema, das die Störfallbetriebe selbst zu erledigen haben, sondern verpflichtet auch die öffentliche Hand.

Entscheider-Facts Für Anwender

  • Die Kommission für Anlagensicherheit (KAS) hat im November 2010 Empfehlungen für Mindestabstände zwischen Betriebsbereichen nach der Störfall-Verordnung und schutzbedürftigen Gebieten erarbeitet.
  • Art. 12 Abs. 1 der Seveso-II-Richtlinie 96/82/EG gilt nicht nur für die Politiken zur Flächenausweisung und Flächennutzung, sondern auch für die „Verfahren zur Durchführung dieser Politiken".
  • Die EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, dem Gebot der Abstandswahrung Rechnung zu tragen, und zwar unabhängig davon, ob ein Bauvorhaben im unbeplanten Innenbereich, im Außenbereich oder innerhalb eines Bebauungsplans liegt, bei dessen Aufstellung dieser Umstand noch nicht berücksichtigt worden ist.
  • Die EuGH-Kriterien gelten auch für immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren, denn hier ist die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens eine mitzuentscheidende Frage, die sich nach denselben Regeln des Bauplanungsrechts beantwortet wie bei einfachen Bauvorhaben.
  • Das gilt sowohl bei immissionsschutzrechtlichen Vorhaben außerhalb als auch innerhalb des Industrieparks. Da viele Industrieparks nicht überplant sind, handelt es sich dabei um Innenbereichsflächen, die nach § 34 BauGB zu prüfen sind.
  • Soweit es sich beim geplanten Vorhaben jedoch um einen Störfallbetrieb handelt, bestimmen sich die Anforderungen, die zur Vermeidung von Störfällen und zur Begrenzung der Auswirkungen sogenannter Dennoch-Störfälle zu ergreifen sind, alleine nach den Regeln der Störfall-Verordnung. In allen anderen Fällen gibt es keine strikt anzuwendenden Abstandsvorschriften.

Art. 12 der Seveso-II-Richtlinie 96/82/EG (nachfolgend nur „Richtlinie“ genannt) wurde durch § 50 BImSchG in deutsches Recht umgesetzt. Nach diesem Planungsleitsatz sind die für bestimmte Nutzungen vorgesehenen Flächen einander so zuzuordnen, dass die durch schädliche Umwelteinwirkungen und schwere Unfälle hervorgerufenen Auswirkungen auf die dem Wohnen dienenden Gebiete sowie auf sonstige schutzbedürftige Gebiete wie öffentlich genutzte Gebiete, wichtige Verkehrswege, Freizeitgebiete usw. so weit wie möglich vermieden werden.

Das Problem der Achtungsabstände

Nach bisherigem Verständnis handelt es sich bei dieser Vorschrift um eine Abwägungsdirektive nur für die Bauleitplanung. Unverträgliche Nutzungen sollen voneinander getrennt und schonende Übergänge zwischen Industriegebieten und öffentlich genutzten Gebieten, insbesondere Wohngebieten, geschaffen werden. Wenn eine Gemeinde dennoch ein Wohngebiet neben einem Industriepark ausweisen will, dann verstößt sie gegen das Trennungsgebot des § 50 BImSchG. Es obliegt dann dem Industrieparkbetreiber bzw. den -nutzern, sich gegen solche Planungsabsichten frühzeitig zu wehren, d. h. rechtzeitig Einwendungen im Planaufstellungsverfahren zu erheben und gegen einen dennoch verabschiedeten Bebauungsplan binnen Jahresfrist Normenkontrolle zu erheben. Wird das versäumt, ist der Bebauungsplan nicht mehr zu kippen, und das neue Wohngebiet in der Nachbarschaft führt zu einer neuen Immissionsbetrachtung mit der zwangsläufigen Folge, dass verschärfte Anforderungen an das Umweltverhalten der Anlagen im Industriepark gestellt werden (müssen).

Um die Störfallvorsorge zu gewährleisten, verlangt die Richtlinie einen „angemessenen Abstand“ zwischen Wohngebieten, öffentlich genutzten Gebäuden und Gebieten, wichtigen Verkehrswegen, Freizeitgebieten und aus dem Gesichtspunkt des Naturschutzes besonders wertvollen und besonders empfindlichen Gebieten auf der einen und Störfallbetrieben auf der anderen Seite (Art. 12 Abs. 1 Satz 2).

Was ein „angemessener Abstand“ in diesem Sinne ist, sagen weder die Richtlinie noch § 50 BImSchG genau. Deshalb hat die Kommission für Anlagensicherheit (KAS) im November 2010 Empfehlungen für Mindestabstände zwischen Betriebsbereichen nach der Störfall-Verordnung und schutzbedürftigen Gebieten erarbeitet. Die früheren Empfehlungen der Störfallkommission von Oktober 2005 wurden von der Rechtsprechung bereits als Anhaltspunkte zur näheren Bestimmung planerischer Abstände zwischen Störfall-Betriebsbereichen und schutzbedürftigen Gebieten anerkannt.

Der Leitfaden KAS-18 ist aber wie der frühere Leitfaden aus 2005 ausdrücklich nicht in Genehmigungsverfahren anzuwenden (Ziff. 2.1.3. KAS-18). Dies hatte zur Folge, dass die Abstandsklassen des Leitfadens in Genehmigungsverfahren bislang keine Rolle gespielt haben. Die Einhaltung der Schutz- und Vorsorgepflichten musste vom Antragsteller anderweitig dargestellt und gesichert werden. Da auch Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie nur die „Politiken der Flächenausweisung und Flächennutzung“ in den Blick nahm, bestand nach bisherigem Rechtsverständnis keine Veranlassung, die Abstandsdiskussion auch in Genehmigungsverfahren nach dem Bau- oder Immissionsschutzrecht zu führen. Dies muss sich nach der Entscheidung des EuGH vom 15.9.2011 ändern.

Der vom EuGH entschiedene Fall

Herr Mücksch will etwa 250 m vom Gelände der Merck KGaA in Darmstadt auf dem Gelände einer bislang dort betriebenen Schrott- und Metallrecyclinganlage ein Gartencenter errichten. Die Stadt Darmstadt erteilte ihm dafür einen Bauvorbescheid, weil sich sein Vorhaben nach § 34 BauGB – unbeplanter Innenbereich – in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge. Merck war anderer Auffassung und verwies auf seine nahen Störfallanlagen und auf die dort vorhandenen erheblichen Chlormengen; ein Chlorlager liegt nur 70 m vom geplanten Gartencenter entfernt. Nachdem Merck in zwei Instanzen unterlegen war, erhoben Merck und das Land Hessen Revision gegen das Berufungsurteil zum Bundesverwaltungsgericht. Dieses legte dem EuGH die Frage vor, ob Art. 12 Abs. 1 Seveso-II-Richtlinie neben den Planungsverfahren auch Baugenehmigungsverfahren betreffe und auch dort anzuwenden sei.

Der EuGH bejahte die Frage und führte aus, dass Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie nicht nur für die Politiken zur Flächenausweisung und Flächennutzung, sondern auch für die „Verfahren zur Durchführung dieser Politiken“ gelte. Daraus leitet der EuGH ab, dass die Verpflichtung damit auch die Behörden treffe, die an der Durchführung der Pläne und Politiken mitwirkten, hier also die Baugenehmigungsbehörde.

Der Umstand, dass im vorliegenden Fall ein Bebauungsplan fehlt, in welchem die Abstandsfrage hätte näher geregelt werden können und müssen, befreit nicht von der Pflicht, angemessen Abstände zwischen Störfallbetreiben und schutzbedürftigen Nutzungen – hier einem zukünftig von der Öffentlichkeit stark frequentiertes Gartencenter – zu wahren. Die Mitgliedstaaten können sich nicht auf ihre interne Rechtsordnung berufen, die solches bislang ausdrücklich nicht vorsieht, sondern müssen die Verpflichtungen aus der Richtlinie ernst nehmen, denn Richtlinien sind ihrem Ziel nach verbindlich und überlassen den Mitgliedstaaten nur die Wahl der Form und Mittel ihrer Umsetzung (Art. 288 Abs. 3 AEUV).

Deshalb sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, dem Gebot der Abstandswahrung Rechnung zu tragen und zwar unabhängig davon, ob ein Bauvorhaben im unbeplanten Innenbereich, im Außenbereich oder innerhalb eines Bebauungsplans liegt, bei dessen Aufstellung dieser Umstand noch nicht berücksichtigt worden ist. Konkretere Vorgaben macht das europäische Recht dazu nicht. Die Berücksichtigung erforderlicher Abstände führt auch nicht dazu, dass nun alle Vorhaben für unzulässig erklärt werden müssten, die bestimmte Abstände unterschreiten, sondern die Mitgliedstatten können im Rahmen der Berücksichtigung der Abstandsnotwendigkeiten auch andere Faktoren in Rechnung stellen und auf der Grundlage des konkreten Einzelfalls auch Vorhaben genehmigen, die verhältnismäßig nah an Störfallanlagen dran liegen. Es gilt auch kein striktes Verschlechterungsverbot.

Die „angemessenen Abstände“ sind nach der Richtlinie „langfristig“ zu wahren, also nicht im Sinne strikter Genehmigungsanforderungen zu verstehen. Gefordert wird aber, dass die Genehmigungsbehörde sich im Genehmigungsverfahren Gedanken zu den Abständen macht und hier unter Einbeziehung aller Einzelfaktoren zu einem vertretbaren Ergebnis gelangt. Der EuGH gestattet ausdrücklich die Berücksichtigung „sozioökonomische Faktoren“, ohne dass das Gericht sagt, was darunter konkret zu verstehen ist. Es kann hier nur um Umstände gehen, die für geringere Abstände sprechen wie etwa die wirtschaftliche Bedeutung der Investition auch im Hinblick auf die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen.

Diese Maßstäbe müssen nun, solange in Deutschland keine konkretisierenden Abstandsvorschriften existieren, in sämtlichen entsprechenden Genehmigungsverfahren berücksichtigt werden. Deutsches Recht muss hier richtlinienkonform ausgelegt werden. Ob das Gartencenter in Darmstadt nach dem Urteil des EuGH tatsächlich gebaut werden kann, ist fraglich. Darüber wird demnächst das Bundesverwaltungsgericht entscheiden.

Folgerungen für bestehende Industrieparks

Der EuGH verlangt die richtlinienkonforme Auslegung des gesamten deutschen Genehmigungsrechts. Seine Ausführungen gelten aus diesem Grund für alle Bauvorhaben im Innen-, im Außen- und im beplanten Bereich, sofern das Störfallrecht eine Rolle spielt, weil sich ein Störfallbetrieb in der Nähe befindet. Vor allem ältere Bebauungspläne, bei deren Aufstellung § 50 BImSchG noch nicht in Kraft war, weisen regelmäßig keine einzuhaltenden Abstände auf; dies ist nun im Wege richtlinienkonformer Auslegung der Bebauungspläne nachzuholen.

Die EuGH-Kriterien gelten auch für immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren, denn hier ist die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens eine mitzuentscheidende Frage, die sich nach denselben Regeln des Bauplanungsrechts beantwortet wie bei einfachen Bauvorhaben. Das gilt sowohl bei immissionsschutzrechtlichen Vorhaben außerhalb als auch innerhalb des Industrieparks. Da viele Industrieparks nicht überplant sind, handelt es sich dabei um Innenbereichsflächen, die nach § 34 BauGB zu prüfen sind. Auf sie sind, da sie industriell genutzt werden, gemäß § 34 Abs. 2 i. V. m. § 9 BauNVO die Regeln über Industriegebiete anzuwenden. In diesem Rahmen ist die Frage nach den angemessenen Abständen zwischen Störfallbetrieb und den angrenzenden schutzbedürftigen Gebieten zu beantworten Eine Einschränkung ist allerdings zu machen: Soweit es sich beim geplanten Vorhaben um einen Störfallbetrieb handelt, bestimmen sich die Anforderungen, die zur Vermeidung von Störfällen und zur Begrenzung der Auswirkungen sogenanntern Dennoch-Störfälle zu ergreifen sind, alleine nach den Regeln der Störfall-Verordnung. Daneben bedarf es dann nicht zusätzlich noch der Berücksichtigung der Abstandsrechtsprechung des EuGH.

In allen anderen Fällen gibt es keine strikt anzuwendenden Abstandvorschriften. Die Empfehlungen der Kommission für Anlagensicherheit (KAS-18) dürfen hier nicht ersatzweise zur Konkretisierung herangezogen werden, denn sie gelten ausdrücklich nicht für Genehmigungs-, sondern ausschließlich für Planungsverfahren. Wie der EuGH betont hat, sind neben den Abständen auch sozioökonomische Faktoren zu berücksichtigen. In jedem Einzelfall ist im Rahmen abwägender Entscheidung aller Kriterien eine Entscheidung über Genehmigung oder Nichtgenehmigung des Vorhabens zu treffen. Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine Abwägung im bislang bekannten Sinn, die dazu führen würde, dass nur eine eingeschränkte Abwägungsfehlerkontrolle möglich wäre. Denn auf das Erteilen der Bau- oder der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung hat der Antragsteller bei Vorliegen der Voraussetzungen einen einklagbaren Rechtsanspruch.

Gründe der Wirtschaft und Arbeitsplatzschaffung können so für die industriellen Vorhaben in den Industrieparks sprechen und es unter Abwägung aller Kriterien des Einzelfalls wie auch der Menge und Gefährlichkeit der Gefahrstoffe rechtfertigen, die Abstände der Abstandsklassen nach KAS-18 auch deutlich zu unterschreiten.

Erforderlich ist allerdings, dass die Genehmigungsbehörde eine nachvollziehbar begründete Entscheidung unter Einbeziehung aller relevanten Faktoren trifft. Wenn sich so ergibt, dass aus bestimmten (sozioökonomischen) Gründen geringe Achtungsabstände in Kauf genommen werden können, dann kann niemand eine solche Genehmigung im Klagewege deswegen zu Fall bringen. So hat das VG Düsseldorf im Beschluss vom 16. Dezember 2011 (25 L 581/11) eine Kindertagesstätte, die in einem Abstand von nur 100 m von einem Chemiewerk errichtet werden sollte, nicht als rücksichtlos und damit nicht genehmigungsfähig eingestuft. Vorhandene Betriebe genießen Bestandsschutz, d. h. hier kann nicht das Einhalten von Abständen verlangt werden. Kommunen, die Art. 12 der Richtlinie bei der Aufstellung ihrer Bebauungspläne bislang nicht beachtet haben, sollten ihre Bebauungspläne daraufhin überprüfen und gegebenenfalls anpassen. Umgekehrt können sich die Industriegebiete nun wirksamer gegen heranrückende schutzbedürftige Nutzungen zur Wehr setzen, und sie sollten das im Interesse der Standortsicherung auch tun.

Autor: Prof. Dr. Müggenborg
Vorsitzender des Umweltrechtsauschusses des DAV. Deutschlandweit führender Experte im Umwelt- und Technikrecht.

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